Evas Besuch
Gabriele Wohmann
Mittwoch Nacht. Gestern Abend ist Eva angekommen. Ich habe sie an der Bahn abgeholt, sie wird vier oder fünf Tage bleiben, ich nehme an, dass sie sogar einen sechsten Tag zugibt. Ich habe sie diesmal im Hotel untergebracht. Heute Vormittag waren wir nicht zusammen. Nachmittags besuchte ich Eva im Hotel, ich meide 5 tagsüber meine Wohnung, wegen Rudolf Morgen wollen wir zusammen durch die Stadt gehen. Eva nennt das „bummeln“,ich aber stoße mich immer noch ein wenig an dieser Ausdrucksweise, die mein Mann abgelehnt und als schnoddrig bezeichnet hat. Ich freue mich auf morgen, doch, das ist wahr, trotzdem kann ich mir ein gewisses Unbehagen nicht ausreden und ich kenne das: so ergeht es mir jeweils mit 10 Verwirklichungen. Ich habe auch seinerzeit meinen Mann damit gereizt, und nicht nur ihn. Für mich selbst ist es am lästigsten. Aber ich habe mich sehr auf Evas Besuch gefreut und halte daran fest, dass es nett ist, sie hier zu haben. Seither war sie daran mit Erzählen. Sie hat auch ausgiebigen Gebrauch von diesem Gastrecht gemacht. Mich hat es nicht gelangweilt, es tat sogar recht gut, in ihre Welt - aber ich bin nicht 15 in sie eingedrungen, das ist nicht wahr, und ich habe es nicht vergessen, keinen Augenblick. Es ist mir nicht möglich, und dies gilt für die ganze Dauer von Evas Besuch, das zu vergessen, was sich sowieso höchstens zurückdrängen lässt. Dennoch werden wir’s nett miteinander haben. Ich denke an zwei Filme, die ich auch ohne Eva angesehen hätte, nun aber wird es - wie wird es nun sein? Wird es einen Sinn 20 haben, dass Eva - ich meine, werde ich mit ihrer Hilfe Rudolf - Rudolf ist mein Sohn.
Donnerstag Nacht. Ich habe nun doch wieder fest vor, Eva die Sache zu erzählen. Ich bin an der Reihe. Ich werde es ihr sagen. Ich darf es aber nicht in der Weise tun, die Mitleid erregt - was bilde ich,mir ein: Mitleid wird sich auf keinen Fall vermeiden 25 lassen. Aber beim geringsten Verdacht, dieses Mitleid habe mit Geringschätzung zu tun, werde ich - was werde ich. Ich höre sie zu ihren Freundinnen sagen, wisst ihr, das konnte ja nur ihr passieren, beziehungsweise ihrem Rudölfchen ... Wie rede ich da über Eva, es ist nicht gerecht. Doch glaube ich, dass sie von vornherein gegen Rudolf war, sie fand ihn wohl schon immer ein wenig lächerlich - wenn ich nicht 30 irre. Sie hat ihre leichte Verachtung, übrigens lediglich des Namens Rudolf, ganz früher einmal zu erkennen gegeben. Rudolf ist jetzt neuneinhalb. Eva wird sagen: wie bitte? In seinem Alter schon! Das ist ja schrecklich! Eva hat mir heute Abend viel von ihren Kindern erzählt. Sie hat zwei Söhne und eine Tochter. Wenn sie Negatives über sie sagt, kommt es mir immer so vor, als sage sie es mir zuliebe. Jeder weiß,
35 dass gegen ihre Kinder nichts einzuwenden ist. Ihre lächerlichen Ungezogenheiten werden mich sehr quälen, wenn Eva mir im Verlauf ihres weiteren Aufenthalts mehr davon erzählen wird. Aber es soll nicht dazu kommen, ich selber werde sprechen.
Freitag Nacht. Bei meiner Rückkehr von einem langen Tag mit Eva war Rudolf noch wach, aber nicht mehr auf. Kurz nach vierundzwanzig Uhr. Auf der Kommode 4〇 unterm Spiegel lagen Rudolfs Gedichte, ich kann sie ihm nicht abgewöhnen und finde sie nach wie vor dort an ihrem angestammten Platz, wenn ich zu Stunden, in denen Rudolf schon im Bett liegt, nach Hause komme. Ich finde sie auch noch seit einer Woche, als wäre nicht - als hätte er nicht - aber die Schrift ist etwas schlechter geworden, allerdings kaum, es erstaunt mich, fast vermute ich, Eva würde mir 45 anhand des heutigen kleinen Vierzeilers nicht glauben, wenn ich ihr nun doch erzählte - Ich will mich kurz fassen: heute war keine Gelegenheit, es Eva zu sagen. Ich kann mir schließlich nicht herausnehmen, ihr diesen Aufenthalt zu verderben, indem ich - Der Name Rudolf fiel heute, auch heute, kein einziges Mal, wenn ich mich recht erinnere.
so Samstag Abend. Eva hat früher abreisen müssen als geplant. Ein telegrafisch mitgeteilter Besuch, oder eins der Kinder kränklich, ich habe es uns erspart, genau hinzuhören. Trotzdem, es war eine nette Zeit, wenn auch kurz. Auch heute habe ich Eva nicht zu mir herausgebeten und Vergnügungen im Stadtinnern vorgeschlagen, ihr Zug ging am späten Nachmittag. Am Bahnhof hat Eva gesagt: Du hast gar nicht 55 genug von dir erzählt. Ich hätte gern mehr gehört. Nicht genug? Mehr? Woran erinnerte Eva sich, an welche Erzählungen, da sie mehr verlangte? Denn dies glaube ich zu wissen: ich habe überhaupt nichts von mir erzählt. Sie sagte: Aber das ist schließlich ein gutes Zeichen, wer keine Sorgen hat, braucht auch keine Freundin zum Ausquatschen. Sie gab mir dann zu verstehen, fast beneide sie mich, die Witwe, 6〇 ich solle es ihr nicht übelnehmen, sie sei nun einmal unverblümt, und ich könne ihr ruhig glauben, mit einem Mann als Familienoberhaupt sei keineswegs alles einfacher, im Gegenteil. Ich habe ihr Recht gegeben, denn seit das anfing mit Rudolf und seit es nun so weit gekommen mit ihm, teile ich ihre Meinung, wenn sie mich selber auch befremdet. Ich glaube wohl nicht recht an das geteilte Leid, das leichter zu 65 tragen sein soll. Ich finde wohl, aus diesem Kummer sollten so viele Beteiligte wie irgend möglich herausgehalten werden. Deshalb habe ich auch meinem nochmaligen Wunsch, Eva alles zu sagen, während der Abschiedsminuten nicht stattgegeben, obwohl Eva - Ich habe bereits erwähnt, dass ich mich vor einer bestimmten Art Mitleid fürchte. Dennoch war in diesen letzten Augenblicken das Bedürfnis, mich 7〇 zu äußern, noch einmal erheblich, ich weiß nicht warum. Nun, kurzum: ich gebe ihm nicht nach und werfe Eva kein Versäumnis vor. Hat sic nicht, vom Abteilfenster herunter, mir einen Gruß an Rudolf zugerufen? Doch wohl nicht, aber wenn ich nicht irre, hat sie gestern Abend oder auch vorgestern Abend irgendwas im Zusammenhang mit Rudolf angedeutet, nein, es handelte sich um einen ihrer Söhne, 75 ich glaube wohl. Zurück zur Sache: Eva, es kann nicht geleugnet werden, gab mir, vom Zug aus, zwei nicht übersehbare Chancen. Die erste: Sie sei nun keinmal bei
mir zu Haus gewesen, wisse gar nicht mehr, wie ich eigentlich eingerichtet sei, antik, wenn sie sich recht erinnere, oder nicht ganz im Gegenteil überaus modern? Die zweite: - Ich habe sie vergessen, seltsam. Doch bin ich sicher, zwei Chancen gehabt sozu haben, und ergriff keine. Weil - ich wollte diesem Besuch keinen beschmutzenden
Abschluss geben. Es war so nett, ich selber war vergnügt, Evas munteres Gesicht, ich fühlte mich selber so -.
Es ist nicht wahr. Evas Zug fuhr mit Eva ab. Ein vom Winken bewimpelter Zug und auch Eva winkte mir oder den Leuten hinter mir. Ich war froh, aber froh ist nicht das 85 Wort. Ich bin den langen Weg zu Fuß gegangen, zurück, nach Haus, um es pathetisch zu sagen: in mein verleugnetes Leben. Auf der Kommode fand ich ein vielleicht etwas schlechter als am Freitag geschriebenes Gedichtchen aus der eigensinnig am Schreiben festhaltenden Hand meines Sohnes Rudolf, der seit einer Woche blind ist.
Gabriele Wohmann wurde am 21. Mai 1932 in Darmstadt geboren. Sie stammt aus einer Pastorenfamilie. Seit 1956 lebt sie als freie Schriftstellerin in Darmstadt. Gabriele Wohmann ist Verfasserin von Erzählungen, Romanen, Gedichten, Hörspielen, Fernsehspielen und Essays. Sie schuf seit den 1950er Jahren ein umfangreiches Werk, in dem sie anfangs - in durchaus satirischer Form - die Problematik der herkömmlichen Paarbeziehung und traditioneller Familienstrukturen aufzeichnet. Wohmann, die in den 1960er Jahren auch an Tagungen der Gruppe 47 teilgenommen hatte, schlug seit den 1970er Jahren versöhnlichere Töne an. Ihr Werk hat inzwischen den Charakter einer fortgesetzten Chronik des Privatlebens und der Konflikte und Beschädigungen angenommen, die sich hinter der Fassade des Alltags meist gut situierter Figuren verbergen. Gabriele Wohmann ist seit 1975 Mitglied der Berliner Akademie der Künste und seit 1980 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Von 1960 bis 1988 gehörte sie dem PEN-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland an. 1997 erhielt sie Großes Bundesverdienstkreuz.
hinzufügen, ergänzen
jmdm./einer Sache bewusst ausweichen, aus dem Weg
gehen; sich von jmdm./etw. fernhalten
ohne Eile und ohne konkretes Ziel spazieren gehen
frech und ohne Respekt; arrogant
unangenehmes Gefühl
ärgern; herausfordern, provozieren
lästig | störend, ärgerlich, sehr unangenehm |
ausgiebig | reichlich, in reichem Maße |
einwenden | Argumente oder Gründe nennen, die gegen jmdn./etw. sprechen |
ungezogen | nicht so, wie es der Anstand verlangt; frech |
angestammt | herkömmlich |
sich (D) herausnehmen | sich dreisterweise erlauben; sich anmaßen |
herausbitten | jmdn. bitten, herauszugehen, herauszukommen; hier: einladen |
jmdm. etw. übel nehmen | sich ärgern über etw., das jmd. getan hat |
unverblümt | ganz direkt, offen und ehrlich |
heraushalten | dafür sorgen, dass jmd. außerhalb eines bestimmten Gebiets o. Ä. bleibt |
stattgeben | einer (als Antrag, Gesuch o. Ä. formulierten) Bitte, Forderung o. Ä. entsprechen |
bewimpelt | mit Wimpeln versehen; beflaggt |
pathetisch | voller Pathos; (übertrieben) feierlich; allzu gefühlvoll |
verleugnet | • hier: verdrängt, vergessen, verschwiegen |
〇 ln dieser Kurzgeschichte geht es u.a. um die Beziehungen zwischen Freundschaft und Mitleid bzw. zwischen Mitleid und Geringschätzung. Stimmen Sie dem Sprichwort zu, dass geteiltes Leid halbes Leid und geteilte Freude doppelte Freude ist? Argumentieren Sie. U门d wie ist das Zitat vo门 Friedrich Nietzsche — „Mitfreude, nicht Mitleiden macht den Freund" - zu interpretieren?
Geteiltes Leid ist halbes Leid.
© Es ist sehr auffällig, dass vier Abschnitte dieser Erzählung mit einer Zeitangabe von „Nacht" bzw. „Abend" beginnen. Das erinnert an die Schreibweise eines Tagebuches. Welche Vorteile hat eine solche Schreibweise?
0 Beantworten Sie die Fragen nach dem Textinhalt.
Wo wohnte Eva diesmal während ihres Besuchs?
Freute sich die Ich-Erzählerin auf einen gemeinsamen Stadtbummel mit der Freundin?
Was störte den Mann der Protagonistin besonders an ihr?
Konnte sich die Protagonistin auf Evas Erzählen konzentrieren?
Warum hegte die Ich-Erzählerin immer Bedenken, der Freundin ihr Geheimnis zu verraten? Was befürchtete sie?
Wie reagierte die Ich-Erzählerin, als ihre Freundin von deren Kindern erzählte?
Welche Gewohnheit hat Rudolf, der Sohn des weiblichen Ichs?
Die Ich-Erzählerin wollte ihre Freundin nicht in ihr eigenes Leid verwickeln. Welche Überlegungen hatte sie denn?
Hat die Protagonistin in den Abschiedsminuten Chancen gehabt, sich zu äußern? Und hat sie sie ergriffen?
In was für einer Stimmung ist die Ich-Erzählerin von dem Bahnhof nach Hause zurückgegangen?
Worauf lässt sich das merkwürdige Verhalten der Protagonistin zurückführen, dass sie tagsüber ihre Wohnung mied und vor der Freundin ihren Sohn nicht erwähnte?

