Fachkräftemangel in der Krisenzeit
Heiß begehrt und trotzdem ohne Arbeit? Jahr für Jahr schaltet die Industrie in den Jammermodus, klagt über Fachkräftemangel. Tatsächlich suchen Tausende Ingenieure zunehmend verzweifelt einen Job. Wie passt das zusammen?
Hamburg/Hannover - Es ist zum Branchenmantra geworden: „Händeringend** tis „verzweifelt“ sucht die Industrie nach Ingenieuren, errech.net Milliardenverluste, beklagt seit Jahren schon einen Fachkxäftemangel. Doch wenn Michael dieses Wort hört, wird der sonst so ruhig wirkende Ingenieur richtig laut. „Das ist eine richtige 5 Frechheit von den Firmen44, sagt der 37 Jahre alte Arbeitslose, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte.
„Es sind doch sehr, sehr gute Leute auf dem Markt. Die müssen einfach nur an die Jobs herangeführt werden'1, so Michael. Er selbst sucht seit Februar nach einem Job - und war in dieser Woche auf einer Messe in Hannover unterwegs, um sich über offene 10 Stellen und neue Projekte zu informieren.
Für die Industriemesse hatte er sich ein straffes Programm zusammengestellt - mit Besuchen an „im Schnitt 50 Ständen pro Tagw. Er sprach mit Personalem und Technikern, sammelte Kontaktdaten und ließ seine eigene Visitenkarte dort. Der studierte Elektrotechniker hat in den vergangenen Jahren in zahlreichen Fachgebieten 15 Erfahrungen sammeln können - „Ich bin breit aufgestellt.tc Trotzdem seien die Reaktionen der Unternehmen auf seine Eigeninitiative zurückhaltend. „Ich bin gefrustet bis zum Anschlag/'
34.000 offene Stellen, 25.000 Arbeitslose - da muss doch was gehen
Zugleich aber werden die Arbeitgeber nicht müde zu betonen, mit welchen 20 Schwierigkeiten sie bei der Suche nach gut ausgebildeten Ingenieuren kämpfen.
Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) hat schon mehrfach Alarm geschlagen und tat es auf der Industriemesse in Hannover erneut: 34.000 Stellen blieben nach VDI-Angaben im vergangenen Jahr unbesetzt, vor allem in Baden-Württemberg und Bayern. Die wirtschaftlichen Folgen seien enorm. Umsätze von etwa über drei 25 Milliarden Euro hätten wegen des Fachkräftemangcls nicht verwirklicht werden können,sagte VDI-Direktor Willi Fuchs in Hannover.
Nach Angaben des Vereins gab es 2009 aber auch rund 25.000 arbeitslose Ingenieure, und es dürften noch einige tausend Technikabsolventen hinzukommen, die sich gar
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3〇 Wie passt das zusammen - und warum spricht der VDI dennoch von „Vollbeschäftigung"?
Klar ist: Die Zahl der arbeitslosen Ingenieure ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken. 2005 waren es noch über 60.000, im März 2010 rund 28.000. Auch die Zahl der offenen Stellen lag in den Jahren 2006 bis 2008 deutlich höher als heute, so 35 eine aktuelle VDI-Studie zum Arbeitsmarkt für Ingenieure.
Die Branche zwicken Zukunftsängste
Doch die ausgeschriebenen Jobs lassen sich nicht immer kurzerhand mit arbeitslosen Ingenieuren besetzen. Und trotz des großen Wehklagens der Industrie finden gerade junge Ingenieure oft keine Stelle, weil Unternehmen in der Wirtschaftskrise auf die 4〇 Einstellungsbremse treten.
Laut VDI tauchen viele in der Arbeitslosenstatistik nur vorübergehend auf, etwa weil ihre Arbeitgeber in die Insolvenz gegangen sind und sie zügig eine neue Beschäftigung gefunden haben. Der Ingenieurarbeitsmarkt unterliegt außerdem traditionell sehr starken Schwankungen und ist eng an die wirtschaftliche Entwick- 45 lung gekoppelt - in Deutschland wie international. Auf den ersten Blick paradox scheint, dass die Industrie nun großen Fachkräftemangel trotz Wirtschaftskrise ortet. „Deutschland lebt von Innovationen“,erklärt VDI-Experte Lars Funk. „Auch wenn die wirtschaftliche Situation derzeit nicht so gut ist, wissen die Unternehmen, dass sie in die Entwicklung investieren müssen - und dafür braucht man Ingenieure.£C
5〇 Doch es kommt noch ein anderer Faktor hinzu: Der Ingenieur-Verein hält einige tausend Arbeitslose für schwer vermittelbar - etwa aus Altersgründen, wegen zu geringer Erfahrung oder zu hoher Gehaltsvorstellungen, wegen fehlender Mobilitätsbereitschaft oder mangelnder Kenntnisse in nachgefragten Bereichen. Im Fachbegriff heißt es „Mismatching“,wenn die verlangten mit den angebotenen 55 Qualifikationen nicht zusammenpassen.
Ingenieuren wie Michael auf der Hannover-Messe wird das kaum einleuchten - es wundert und wurmt sie, dass es mit dem Berufsstart oder der nächsten Stelle partout nicht klappen will. Auch Arbeitsmarktexperten fuhren der Branche, die ausdauernd auf Fachkräftemangeljammermodus geschaltet hat, mehrfach in die Parade. Das G〇 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) etwa kam 2008 zum Ergebnis, es gebe „trotz Engpässen in einigen Ingenieurberufen keinen flächendeckenden Ingenieurmangel“,der Arbeitsmarkt sei „nicht völlig leergefegt“. Der Industrie empfahlen IAB-Mitarbeiter unter anderem, das Potential von Arbeitslosen und Frauen stärker zu nutzen.
65Flucht aus einem öden und harten Studium
Aus gutem Grund, denn in den kommenden Jahren dürfte sich die Situation für die Unternehmen verschärfen. Die Zahl der Hochschulabsolventen reiche nicht mehr aus, um den Bedarf an Fachkräften zu decken. „Das Interesse an den Ingenieurberufen lässt nachK, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Oliver Koppel, der 7〇 für den VDI eine Studie zu diesem Thema erstellt hat. „In der Generation unserer Großeltern war jeder dritte Akademiker Ingenieur, jetzt ist es gerade noch jeder sechste.“
Außerdem sind Deutschlands Ingenieure im Schnitt schon recht alt. Nach VDI- Angaben werden ab 2018 jährlich rund 44.000 in den Ruhestand gehen - mehr, als 75 von den Hochschulabsolventen voraussichtlich nachrücken werden. Auf 347.000 Ingenieure im Alter von 56 bis 65 Jahren kommen demnach in Deutschland 343.000 Ingenieure im Alter von bis zu 35 Jahren. Überdies sieht das arbeitgebernahe Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für die Zukunft einen deutlich höheren Bedarf an Ingenieuren - wegen der Entwicklung hin zu einer „forschungs- und 8〇 wissensintensiven Gesellschaft“,so IW-Geschäftsführer Hans-Peter Klös.
Hinzu kommt, dass Ingenieure nicht etwa nur in der Forschung und Entwicklung gefragt sind, sondern auch in ganz anderen Berufsfeldern gute Chancen haben. Nur jeder zweite ausgebildete Ingenieur arbeitet tatsächlich in einem klassischen Ingenieurberuf, viele andere zum Beispiel als Informatiker oder Patentrechtler im 85 Management oder an Hochschulen. Ingenieure sind also schön flexibel - damit aber gehen der Industrie viele interessante Kandidaten von der Fahne.
Und: Viele Studienanfänger, die sich für ein Technikstudium entschieden haben, schmeißen es schon in den ersten Semestern hin. Teils werden sie aus einem übermäßig harten Grundstudium „herausgeprüft", teils suchen sie aus purem Frust 9〇 selbst den schnellsten Fluchtweg aus einem als öde, trocken, abstrakt empfundenen Studiengang.
(im Hinduismus, Buddhismus u. a. verwendete) magische Formel
fest gespannt und glatt, nicht locker oder schlaff; hier: streng und effektiv und mit dem Ziel, dass alle Arbeiten schnell, aber auch gut gemacht werden
an einer Hochschule wissenschaftlich ausgebildet; mit einem
abgeschlossenen Studium
(ugs.) frustriert; enttäuscht und deprimiert
der Zustand, wenn jmd. enttäuscht, frustriert ist
Text A achkrÄftemar.广!I h r Kr;seru,:it 105
bis zur Grenze
(leicht) kneifen; einen leicht ziehenden Schmerz verursachen hier: öffentlich und schriftlich für Interessenten, Bewerber, Teilnehmer o. Ä. zur Kenntnis gebracht, bekannt gegeben rasch und ohne langes Überlegen Zahlungsunfähigkeit
relativ schnell und ohne Unterbrechung oder Stockung einen (scheinbar) unauflöslichen Widerspruch in sich enthaltend; widersinnig, widersprüchlich mit technischen Instrumenten bestimmen, wo sich jmd. oder eine Sache befindet
Einführung von etw. Neuem; Neuerung; Reform
jmdn. innerlich mit Groll, Kummer, Missmut erfüllen
unter allen Umständen; unbedingt
hier: wirtschaftliche Notlage, schwierige Situation
ein bestimmtes Gebiet, einen Bereich vollständig erfassend
hier: wenig gehaltvoll oder ansprechend; ohne echte Inhalte
oder Neuigkeiten und daher reizlos; langweilig
allmählich an Stärke, Intensität verlieren; weniger, schwächer
werden
hier: ]mds. Posten, Amt übernehmen
amtlich zugesichertes Recht zur alleinigen Benutzung und gewerblichen Verwertung einer Erfindung; Patentschutz; Erfindung, die durch das Patentrecht geschützt ist Gesamtheit der Rechtvorschriften zur Regelung der mit Patenten zusammenhängenden Fragen; Recht auf die Nutzung eines Patents
〇 Beantworten Sie die folge门de门 Fragen.
1) Welches Wort regt den arbeitslosen Ingenieur Michael besonders auf? Warum?
2) Zu welchem Zweck besuchte Michael die Industriemesse in Hannover? Auf welche Reaktionen der Unternehmen stieß er?
3) In welchen Bundesländern mangelte es 2009 nach VDI-Angaben besonders an Ingenieuren? Was waren die Folgen? Wie war laut Statistik des Vereins das Verhältnis der jobsuchenden Techniker und der angebotenen freien Stellen?
4) Warum fällt es in der Wirtschaftskrise gerade jungen Ingenieuren schwer, eine Stelle zu finden?
Von welcher Bedeutung sind technische Fachkräfte für die deutsche Industrie trotz der krisenhaften wirtschaftlichen Lage?
Aus welchen Gründen ist es nach Meinung des deutschen Ingenieur-Vereins so schwer, so viele arbeitslose Ingenieure unterzubringen?
Was bedeutet der Fachbegriff „Mismatching^?
Was begreifen Ingenieure wie Michael nicht?
Welche Alternativen empfahl das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung den Unternehmen bei Ingenieurmangel?
Interessieren sich die deutschen Studenten nach wie vor für Ingenieurberufe? Ist ein Technikstudium heute für sie attraktiv? Warum?
Sind Ingenieure in einer „forschungs- und wissensintensiven Gesellschaft" gefragt? Welche Chancen haben sie?

