高级德语

刘卫平,张颖

目录

  • 1 第一单元 Kinder und Familie
    • 1.1 第一课时 Die Glücksbringer
    • 1.2 第二课时 Das Abenteuer Kind
  • 2 第二单元 Bildung und Ausbildung
    • 2.1 Metall ist einfach mein Ding
    • 2.2 Das Publikum von morgen
  • 3 第三单元 Studium in Deutschland
    • 3.1 Zwischen Schiller und Netzkultur
    • 3.2 Vor dem Examen
  • 4 第四单元 Berufe
    • 4.1 Fachkräftemangel zur Krisezeit
    • 4.2 Zur Krisezeit
  • 5 第五单元 Fremdsein
    • 5.1 Evas Besuch
    • 5.2 Der erste Tag
  • 6 第六单元 Im Ausland
    • 6.1 Neue Chancen
    • 6.2 In Sprachschulen
  • 7 Tourismus
    • 7.1 Schwierige Suche
    • 7.2 Im Osten viel Neues
  • 8 Wirtschaft
    • 8.1 Lebensmittel sorgen ein Plus im Export
    • 8.2 Von Milchpreisen
Vor dem Examen
  • 1
  • 2


Vor dem Examen

Wie ein Professor die Studenten in der mündlichen Prüfung erlebt

Die Hände sind feucht, die Finger zerbrechlich wie Spinnenbeine. Man läuft gegen einen Stuhl, der gar nicht im Weg steht. Mündliche Prüfungen beginnen oft mit solchen Fehlleistungen. Dabei ist der psychische Druck, unter dem Examinanden stehen, meist selbst verursacht. Viele beginnen erst nach Abgabe der schriftlichen Arbeit, sich Gedanken über die mündliche Prüfung zu machen. Hektisch suchen sie die verabredete Literatur zusammen. Weil das jedoch viele tun, sind die Bücher entliehen, vorbestellt oder von Kommilitonen in der Bibliothek versteckt. Klar, dass dann vier Wochen zur Vorbereitung knapp sind.

Die verlorene Zeit versuchen die Prüflinge durch magische Handlungen aufzuholen, die eher der eigenen Psyche als der Sache dienen. Sie lesen acht oder zehn Stunden am Tag und wundern sich nach drei Tagen, dass sie kaum etwas behalten haben. Nach fünf Tagen merken sie, dass sie das Tempo nicht durchhalten können, und sie tragen sich in die Sprechstundenliste des Prüfers ein. Dort warten sie - neben 40 oder 50 anderen Verängstigten - darauf, eine Kürzung der verabredeten Literatur erflehen zu können. Erfolgt der Ablass, arbeiten sie aus Buße bis tief in die Nacht.

Das Einzige, was man so erreicht, sind tiefe Eingriffe in den Biorhythmus. Massive Einschlafstörungen stellen sich ein. Man steht morgens auf, als hätte man die prüfungsrelevanten Bücher nicht gelesen, sondern turmhoch gestapelt. Vor Müdigkeit fällt nun das Lernen schwer, und bei mehreren Tassen Kaffee - die nicht wach, sondern nur nervös machen - sucht man Trost bei Mitbewohnern, die tolle Storys über den Prüfer gehört haben, aber auch nicht gerade beruhigen.

Wäre es nicht zweckmäßiger, seinen Prüfer schon zu Beginn des Hauptstudiums anzuvisieren, vorrangig seine Veranstaltungen zu besuchen, um dann seine Eigenheiten selbst beurteilen zu können, statt sich auf Campus-Geflüster zu verlassen? 25 Könnte man Prüfungsthemen nicht langfristig festlegen und vor Beginn der Abschlussarbeit die einschlägigen Texte kopieren oder kaufen? Unbedingt aber sollte man den Lebensrhythmus, mit dem man studiert hat, nur langsam und langfristig ändern. Wenn achtsemestrige Nachtculen ausgerechnet am Abend vor der Prüfung mit den Hühnern in die Federn gehen, führt das nur zu einer qualvoll durchwachten 3 Nacht.

Oft sieht man Kandidaten, die noch Minuten vor der Prüfung ihre Unterlagen studieren. Das wirkt nicht nur unprofessionell, es ist auch sinnlos. Spätestens am Mittag vor dem Prüfungstag sollte man Bücher, Kopien und Exzerpte wegräumen und sich einen bewegungsaktiven Nachmittag und einen alkoholfreien Kinoabend 35 gönnen. Man geht entspannter in die Prüfung, weil man Distanz zum Gelernten bekommen hat.

Schon vorher sollte man vermeiden, sich wie die Raupe Nimmersatt durch Themen und Texte zu wühlen. Das gefährdet die geistige Verdauung. Sie wird dagegen gefördert, wenn man auf einem langen Spaziergang durch die herbstlichen Wälder 4 einem geduldigen Vertrauten - gewissermaßen aus der Vogelschau - erklärt, was man gelernt hat. Stößt man auf Unverständnis, hat man schlecht gelernt und muss nachbessern.

Distanz und Überblick verschafft sich, wer das Thema kurz vor der Prüfung auf einem Blatt Papier gliedert. Wer überlegt, wie er die Prüfung beginnen und 45 strukturieren möchte, statt schicksalsergeben auf die erste Frage zu warten wie auf das Fallbeil der Guillotine. Im Ernstfall beginnt man (wenn man die Wahl hat) mit dem Thema, das man am besten beherrscht - um eine gute Grundstimmung zu schaffen. Man nennt stets die Hauptsache zuerst und kann dann, falls Zeit bleibt, die Nebensächlichkeiten nachreichen.

so Aber es wird keine Zeit bleiben. Auch dann nicht, wenn man die Antworten hektisch herunterrasselt, als müsste man die nächste U-Bahn noch erreichen. Im Übrigen sieht das eher nach Gedächtnis statt nach Denkleistung aus. Andererseits: Die Technik, durch langsames Sprechen auf Zeit zu spielen, um unangenehme Fragen zu verhindern, löst beim Prüfer nur tiefe Qualen aus, weil er das Satzende schon ahnt 55 und nun seine Lebenszeit nutzlos verrinnen sieht.

Abschluss gefährdend verhält sich ein Kandidat, der auf alle Fragen mit ein, zwei Worten antwortet. So viele Fragen gibt es gar nicht, die nötig wären, um diese Prüfung zu retten. In Prüfungen ist Reden Gold, und wenn man einmal etwas nicht weiß, dann ist es besser, laut zu denken, als im Schweigen meditative Fähigkeiten zu G dokumentieren.

Die mündliche Prüfung erfordert nicht nur Sachwissen, nicht nur die Fähigkeit,


Literaturkenntnisse auf individuelle Art zur Geltung zu bringen, sie fordert zusätzlich kundige Eigenaktivität und Engagement von den Prüflingen. Wer in Worten oder Taten deutlich macht, dass ihn das Thema nicht weiter als bis zum Prüfungsende 65 interessiert, begeht allerdings nicht nur einen taktischen Fehler: Er sollte seine Berufswahl gründlich überdenken.

Jede Prüfung hat eine andere Atmosphäre. Ob ein Kandidat die Prüfer mit festem Blickkontakt oder feuchtem Händedruck begrüßt, ob er die ersten Minuten mit dezentem Small talk oder vorbeugender Entschuldigung („Mir geht5s heute nicht 7 so gut,(!) überbrückt, schafft ein spezifisches Raumklima. Studentinnen scheinen besser als ihre männlichen Kommilitonen zu wissen, dass Dritte-Welt-Pullover oder Rapper-Outfit nicht nur freier Ausdruck des Ichs sein können, sondern auch feste Eindrücke beim bürgerlichen Prüfer hinterlassen. Die Kleidung zeigt an, welchen Wert man der Prüfung beimisst. Mimik und Sitzhaltung bestimmen ebenso die 75 Atmosphäre wie die Fähigkeit, im Gespräch Verständnis und Selbstbewusstsein in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.

Allerdings wird keine Prüfung allein durch atmosphärische Super-GAUs verloren. Die Prüfer haben Erfahrungen mit nervösen Kandidaten: Sie können Denkblockaden von Wissenslücken unterscheiden. Sie wissen, wen sie produktiv verunsichern 8 können und wen sie unterstützend fragen müssen. Sie erwarten kein auswendig gelerntes Buchwissen, sondern innerlich verarbeitete Kenntnisse. Sie erwarten allerdings auch, dass jemand, der später Lehrer, Rechtsanwalt oder Arzt werden will, auch unter atmosphärischem Druck sein Wort machen kann.





















Worterklärunqen

wühlen

mit beiden Händen graben; etw. suchend durcheinander bringen

die Verdauung

Vorgang des Verdauens

nachbessern

ausbessern; nachträglich verbessern

schicksalsergeben

Schicksal widerstandslos hinnehmen

die Nebensächlichkeit

Unwichtiges

herunterrasseln

fehlerfrei, aber ohne innere Beteiligung hastig und monoton aufsagen

verrinnen

sich fließend dahinbewegen und verschwinden

meditativ

in tiefes Nachdenken versunken

kundig

sich auf einem Gebiet auskennend; in Bezug auf etw. gute Kenntnisse besitzend

taktisch

klug, berechnend, planvoll

überdenken

über etw. intensiv nachdenken

dezent

anständig, unauffällig

beimessen

einen bestimmten Sinn zuerkennen, zuschreiben

ausgewogen

genau, sorgfältig abgestimmt, harmonisch

 

 

I. Textarbeit

 Welche Aussagen sind nach dem Text richtig, welche sind falsch?

R F

  1. Die Kommilitonen verstecken die Bücher, um sie für sich zu behalten. □

  2. Sie gehen zu dem Prüfer in die Sprechstunde, um mit ihm die

    Literatur zu vereinbaren.

  3. Die Prüflinge versuchen die verlorene Zeit aufzuholen, indem sie

    täglich acht oder zehn Stunden lesen.□口

  4. Sie trinken bei Mitbewohnern mehrere Tassen Kaffee, damit sie dort

    tolle Storys über den Prüfer hören können.□口

  5. In der Prüfung ist man entspannt, wenn man weit weg von dem

    Prüfer sitzt.

  6. Vor Beginn der Abschlussarbeit sollte man Bücher, Kopien und

    Exzerpte wegräumen.

  7. Man soll die Veranstaltungen des Prüfers besuchen, damit man ihn

    besser kennt und bei der Prüfung begünstigt wird.□口

  8. Manche antworten hektisch auf die Fragen, weil sie die nächste

    U-Bahn erreichen wollen.□口

  9. Wenn man einmal etwas nicht weiß, soll man im Schweigen seine

    meditativen Fähigkeiten demonstrieren.□ □

  10. Der Prüfer hat einen guten Eindruck von Studentinnen, weil sie

    Dritte-Welt-Pullover tragen.□ □

0 Suchen Sie aus dem Text die Techniken heraus, mit denen man ein spezifisches Raumklima i der Prüfung schafferi will.

© Beantworte Sie die folgede Fragen.

  1. Was sind typische Merkmale des psychischen Drucks beim Examinanden?

  2. Wann beginnen viele Prüflinge, sich Gedanken über die mündliche Prüfung zu machen? Welche Folgen hat dieses späte Anfängen?

  3. Wie versuchen die Prüflinge, die verlorene Zeit aufzuholen? Zeitigt das die erwünschten Erfolge?

  4. Mit welcher Absicht gehen sie in die Sprechstunde des Prüfers?

  5. ln welcher Situation sucht man Trost bei Mitbewohnern?

  6. Was ist zweckmäßiger für die Vorbereitung der mündlichen Prüfung nach Ansicht des Verfassers?

  7. Was sollte man am Mittag vor dem Prüfungstag tun?

  8. Wie kann die geistige Verdauung gefördert werden?

  9. Was empfiehlt der Professor den Prüflingen kurz vor der Prüfung?

  10. Wie soll man im Ernstfall verfahren?

  11. Was für ein Ziel verfolgt der Prüfling, der langsam spricht?

  12. Was erfordert eine mündliche Prüfung?

  13. Warum kann man nicht von jeder Prüfung die gleiche Atmosphäre erwarten?

  14. Warum tragen die Studentinnen bei der Prüfung gerne Dritte-Welt-Pullover?